Stellungnahme zum Beschluss der Richterin Frau Gerhardt - Amtsgericht Grimma - vom 28.04.2004

 

 

In der Familiensache A (Mutter, Antragstellerin) und B (Vater) wegen elterlicher Sorge

am Amtsgericht Grimma

Geschäftsnummer: 1 F 795/02

Richterin Frau Gerhardt

 

 

 

Kinder

X (Sohn), geb. ...1991

Y (Sohn), geb. ...1995

 

 

 

 

Erarbeitung der Stellungnahme durch Peter Thiel

 

...

 

 

Mit Beschluss des Amtsgerichts Grimma vom 28.04.2004 wird dem Vater der beiden Kinder X und Y das Sorgerecht nach §1671 BGB entzogen. Die Mutter der beiden Jungen soll, so der Beschluss des Amtsgerichtes, zukünftig die elterliche Sorge allein ausüben. Der Vater, Herr B , hat dagegen Beschwerde beim OLG Dresden eingereicht, die mit der nachfolgenden Stellungnahme unterstützt werden soll.

 

Der Beschluss der Richterin Gerhardt vom Amtsgericht Grimma muss sich nicht nur an der innerstaatlichen Norm des § 1671 BGB messen lassen, sondern auch an internationalem Recht, so der

 

UN-Kinderkonvention „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“

 

Artikel 18 (Verantwortung für das Kindeswohl)

(1) Die Vertragsstaaten bemühen sich nach besten Kräften, die Anerkennung des Grundsatzes sicherzustellen, dass beide Elternteile gemeinsam für die Erziehung und Entwicklung des Kindes verantwortlich sind. Für die Erziehung und Entwicklung des Kindes sind in erster Linie die Eltern oder gegebenenfalls der Vormund verantwortlich. Dabei ist das Wohl des Kindes ihr Grundanliegen.

(2) ... (3)

 

 

 

Artikel 12 (Berücksichtigung des Kindeswillen)

(1) Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.

(2) Zu diesem Zweck wird dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben, in allen das Kind berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden.

 

 

der

 

Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)

Artikel 8: "(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung (...) ihres Familienlebens"

 

 

und dem

 

Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

Artikel 6 Satz 2: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuförderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“

 

 

 

Abweichend von diesen internationalen und nationalen Normen und Grundsätzen finden wir in § 1671 BGB folgende Regelung.

§ 1671 BGB (Übertragung der Alleinsorge nach bisheriger gemeinsamer elterlicher Sorge bei Getrenntleben der Eltern)

(1) Leben Eltern, denen die elterliche Sorge gemeinsam zusteht nicht nur vorübergehend getrennt, so kann jeder Elternteil beantragen, daß ihm das Familiengericht die elterliche Sorge oder einen Teil der elterlichen Sorge allein überträgt.

(2) Dem Antrag ist stattzugeben, soweit

1. Der andere Elternteil zustimmt, es sei denn, daß das Kind das vierzehnte Lebensjahr vollendet hat und der Übertragung widerspricht, oder

2. zu erwarten ist, daß die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entspricht.

(3) ...

 

 

 

Es fällt auf, dass sich keiner der beiden Söhne, die ja schon 13 bzw. 8 Jahre alt sind, für einen Sorgerechtsentzug des Vaters ausgesprochen haben. Auch die Verfahrenspflegerin Frau K., die die Interessen der Kinder vertreten soll, hat derartiges nicht vorgebracht. Insofern verwundert die Behauptung der Richterin: "Diese Entscheidung korrespondiert mit der Stellungnahme der Verfahrenspflegerin ..." (S. 5).

 

Es wird daher empfohlen, die Verfahrenspflegerin im vorliegenden Beschwerdeverfahren ausdrücklich zu der Frage anzuhören, ob sie gleichfalls der Auffassung ist, dass es im Interesse der Kinder geboten sei, dem Vater das Sorgerecht zu entziehen. Falls dies auch ihre Sichtweise sei, so sollte sie erläutern, warum sie dies nicht schon im Verfahren vor dem Amtsgericht eingebracht hat. Dass sie es dort nicht getan hat, legt die Vermutung nahe, dass sie mit einem solchen Beschluss wie dem ergangenen nicht einverstanden ist. Wenn dies so ist, bleibt allerdings unklar, warum die Verfahrenspflegerin gegen den Beschluss des Amtsgerichts Grimma nicht selbst in Beschwerde gegangen ist. Zu fragen ist auch, ob sie mit den beiden von ihr vertretenen Jungen, die Frage besprochen hat, ob diese möchten, dass ihrem Vater das Sorgerecht entzogen werden soll. Sollte sie dies nicht mit den Jungen besprochen haben, stellt sich die Frage, ob sie hier ihre Pflicht als Verfahrenspflegerin nicht verletzt hat.

Möglicherweise hat die Verfahrenspflegerin den Beschluss des Amtsgerichts Grimma noch nicht mit den Kindern diskutiert, insbesondere die Frage, ob sie als Verfahrenspflegerin in Beschwerde gegen den Beschluss gehen soll, durch den immerhin einen ihrer beiden Elternteile das Sorgerecht entzogen wird. Zu fragen wäre dann auch hier, ob die Verfahrenspflegerin nicht ihre Fürsorgepflicht gegenüber den beiden Jungen verletzt hätte.

 

Die inzwischen eingetretenen Ereignisse, der achtjährige B lebt derzeit bei seinem Vater und verweigert den Kontakt zu seiner Mutter (Rechtsanwaltschreiben Frau ... vom 07.06.2004), zeigen, dass der von der Richterin Frau Gerhardt angeordnete Sorgerechtsentzug sich offenbar nicht ohne weiteres mit der Lebensrealität in Einklang bringen lässt.

 

Es stellt sich hier die Frage, ob die zuständige Richterin die Intentionen der Kindschaftsrechtsreform vom 1.7.1998 im vollem Umfang verstanden hat. Bei der Reform ging es ja um einen Paradigmenwechsel, weg vom bis dahin üblichen Desorganisationsmodell, das sich der Stärkung der Restfamilie, meist der Mutter-Kind-Familie verschrieben hatte und dafür die Ausgrenzung des anderen Elternteils ausdrücklich in Kauf nahm, hin zum Reorganisationsmodell, das die Entwicklung und Unterstützung der Nachscheidungsfamilie, zu der alle Familienmitglieder gehören, als Priorität setzte. Aktuelles zum Thema lässt sich auch in der von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen und seit 2002 vorliegenden sogenannten Proksch-Studie (Proksch, Roland: "Begleitforschung zur Umsetzung der Neuregelungen zur Reform des Kindschaftsrechts. Schlussbericht März 2002") nachlesen.

Dort heißt es u.a.:

"Das Kindschaftsrechtsreformgesetz erhöht die Chance auf gemeinsame Sorge. Die geS fordert und fördert die Kommunikation wie die Kooperation der Eltern. Sie hilft `Erstarrungen` durch Positionen des `Rechthabens` ebenso zu vermeiden wie erneute Verletzungen. Wenn es für die Eltern nach ihrer Scheidung nicht (mehr) darauf ankommt, den eigenen (Rechts-) Standpunkt vehement zu verteidigen, sondern als wichtig und notwendig erkannt wird, gemeinsam Eltern für ihre Kinder zu bleiben, dann werden sie miteinander und nicht gegeneinander um `das Beste` für ihr Kind ringen. Dies hilft Konfliktverschärfungen konsequent zu vermeiden." (S. 4)

"Zwar ist richtig, das die geS die Fähigkeit und den Willen der Eltern zur Kommunika-tion und Kooperation braucht. Vernachlässigt wird bei der Focussierung auf die geS jedoch, dass auch Eltern mit aeS/ohne elterliche Sorge diese Fähigkeit haben müssen, insbesondere, wenn es um die Regelungen von Umgangskontakten, der wechselseitigen Information über die persönlichen Verhältnisse des Kindes oder Unterhaltsleistungen geht. Während jedoch die geS die Kooperation und Kommunikation von Eltern strukturell fördert, fehlt dies bei der aeS.

Gerade bei Eltern, die die alleinige Sorge (streitig) anstreben, bleiben partnerschaftliche Konflikte für ihre nachehelichen Beziehungen sowie Bestrebungen der Ausgrenzung des anderen Elternteils bestimmend. Richterliche Entscheidungen zur eS nach Anhörungen von Eltern, die die aeS anstreben, und ihren Kindern können allein dem nicht beikommen. Die konflikthafte Beziehung der Eltern wird sich nach einer gerichtlichen Entscheidung häufig weiter verschärfen, mindestens aber bestehen bleiben, zum Nachteil der Kinder." (S. 6)

 

 

Die Richterin Frau Gerhardt meint entscheidungsbegründend, der Sorgerechtsentzug nach §1671 BGB "entspricht dem Wohle der Kinder". (S. 4)

Dabei scheint es, dass die Richterin den §1671 BGB bisher nicht richtig gelesen oder verstanden hat.

 

§ 1671 BGB (Übertragung der Alleinsorge nach bisheriger gemeinsamer elterlicher Sorge bei Getrenntleben der Eltern)

(1) Leben Eltern, denen die elterliche Sorge gemeinsam zusteht nicht nur vorübergehend getrennt, so kann jeder Elternteil beantragen, daß ihm das Familiengericht die elterliche Sorge oder einen Teil der elterlichen Sorge allein überträgt.

(2) Dem Antrag ist stattzugeben, soweit

3. Der andere Elternteil zustimmt, es sei denn, daß das Kind das vierzehnte Lebensjahr vollendet hat und der Übertragung widerspricht, oder

4. zu erwarten ist, daß die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entspricht.

(3) ...

 

 

In §1671 geht es also nicht darum, dass "die Aufhebung der elterlichen Sorge dem Kindeswohl entspricht", wie die Richterin schreibt, sondern, soweit "zu erwarten ist, daß die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entspricht."

Das Gesetz formuliert also, dass das erkennende Gericht die Aufgabe hat, danach zu forschen, ob "zu erwarten ist, daß die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entspricht."

Dies heißt, das Gericht muss zwei Alternativen prüfen, nämlich ob die Beibehaltung des gemeinsamen Sorgerechtes "dem Wohl des Kindes am besten entspricht" oder ob der Entzug des Sorgerechtes für einen Elternteil (Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge) dem Wohl des Kindes am besten entspricht.

Ist das Gericht zu der letzteren Auffassung gelangt, hat es zu prüfen, welchem der beiden Elternteile das Sorgerecht entzogen werden soll. Dies ist hier offenbar nicht geschehen. Die Variante, dass möglicherweise der Mutter statt dem Vater des Sorgerecht entzogen werden würde, wird von der Richterin nicht diskutiert. Sie muss sich daher wohl eine Befangenheit zugunsten der Mutter vorwerfen lassen.

Theoretisch denkbar wäre auch der Fall, dass das Gericht zu der Auffassung kommt, das gemeinsame Sorgerecht aufheben zu müssen und gleichzeitig bei je gleich geeigneten, bzw. ungeeigneten Eltern nicht entscheiden kann, welcher dieser beiden Elternteile das alleinige Sorgerecht zukünftig ausüben soll. In diesem Fall, der in der Praxis durchaus vorkommt, meist jedoch innerhalb von §1666 und §1666a BGB (Kindeswohlgefährdung) behandelt wird, würde beiden Eltern die Personensorge entzogen werden und auf einen Pfleger oder Vormund übertragen.

 

Nachdem die Richterin offenbar eine falsche Prämisse gesetzt hat, muss man davon ausgehen, dass das von ihr nachfolgend Geschriebene nicht greift, da sie wie hier angenommen wird, von einer irrtümlichen Rechtsauffassung ausgeht. Trotzdem soll hier auf die Argumentation der Richterin eingegangen werden, der wie gezeigt werden soll, die Überzeugungskraft fehlt.

Die Richterin schreibt: "Das Gericht konnte im Laufe des nunmehr 1 1/2 Jahre andauernden Verfahren feststellen, dass die Eltern nicht in der Lage sind, hinsichtlich der Belange der Kinder zu kommunizieren." (S. 4)

Jedem Psychologiestudenten dürfte der berühmte Satz von Paul Watzlawick bekannt sein: "Man kann nicht nicht miteinander kommunizieren" (Watzlawick, Paul: Menschliche Kommunikation. 1969). Von daher würde es verblüffen, wenn die Richterin den ersten Fall festgestellt hätte, wo dieses Axiom von Watzlawick nicht zuträfe.

Richtig dürfte sein, dass die Kommunikation der Eltern sich derzeit offenbar durch wenig Konstruktivität auszeichnet. Im Interesse der Kinder aber auch der Eltern ist es wünschenswert dies positiv zu verändern. Dies geschieht jedoch nicht durch einen Sorgerechtsentzug, wie die Richterin möglicherweise vermutet, sondern gegebenenfalls durch Elterngespräche unter fachlicher Begleitung. Dies kann und muss Eltern jedenfalls immer dann zugemutet werden, wenn andernfalls zur Gefahrenabwehr ein staatlicher Eingriff in das Sorgerecht vonnöten wäre.

Die Richterin behauptet weiter: "Es ist nicht so, dass sich die Eltern nur hinsichtlich des weiteren Aufenthaltes der Kinder uneinig sind, sondern aufgrund der persönlichen Diskrepanzen in jeder Hinsicht in einer gedeihlichen Kommunikation gehindert sind." (S. 4)

Die Richterin behauptet eine allgemeine Kommunikationsunfähigkeit der Eltern, ohne den Nachweis anzutreten, in welcher Frage der elterlichen Sorge, außer der des gewöhnlichen Aufenthaltes der Kinder die Eltern uneins sind. Damit verletzt sie offenbar den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der besagt, dass ein Eingriff in das verfassungsmäßig abgesicherte Elternrecht nur insofern zulässt, wie es unabdingbar notwendig wäre. Hinzu kommt, dass eine Uneinigkeit der Eltern in Fragen der elterlichen Sorge gar nicht automatisch den Entzug der gesamten elterlichen Sorge nach sich ziehen kann, denn sonst wäre §1628 BGB ja völlig überflüssig.

 

§ 1628 BGB (Meinungsverschiedenheiten)

Können sich die Eltern in einer einzelnen Angelegenheit oder in einer bestimmten Art von Angelegenheiten der elterlichen Sorge, deren Regelung für das Kind von erheblicher Bedeutung ist, nicht einigen, so kann das Familiengericht auf Antrag eines Elternteils die Entscheidung einem Elternteil übertragen. Die Übertragung kann mit Beschränkungen oder mit Auflagen verbunden werden.

 

 

Vorher sollen die Eltern sich jedoch versuchen zu einigen.

 

§ 1627 BGB (Ausübung der elterlichen Sorge)

Die Eltern haben die elterliche Sorge in eigener Verantwortung und in gegenseitigem Einvernehmen zum Wohle des Kindes auszuüben. Bei Meinungsverschiedenheiten müssen sie versuchen, sich zu einigen.

 

 

Der Vater hat mehrmals die Initiative für eine gemeinsame Familienberatung ergriffen und ist auch weiterhin dazu bereit. Dies ist von der Richterin jedoch nicht gewürdigt worden, statt dessen scheint sie die alleinige Verantwortung für die Kommunikationsstörungen der Eltern dem Vater zuschieben zu wollen, dem dann schließlich als indizierten Verursacher das Sorgerecht entzogen wird (vgl. hierzu: Knappert, Christine: "Wenn ein Elternteil nicht will, kann man nichts machen!? Welche Chancen bietet das neue Kindschaftsrechtsreformgesetz für Jugendämter und Familiengerichte, der bisher so erfolgreichen `Kopfschüttelstrategie` eines Elternteils ein Ende zu setzen?"; In: "Kind-Prax", 2/1998, S. 46-49

Oder Kaiser, Dagmar: "Elternwille und Kindeswohl - für das gemeinsame Sorgerecht geschiedener Eltern", In: "Familie, Partnerschaft, Recht", 2003, Heft 11, S. 573-578

Oder: Carl, Eberhard: "Im Familiengerichtsverfahren: Den Eltern die Verantwortung für die Lösung der Konflikte zurückgeben"; In: "Familie, Partnerschaft, Recht", 4/04, S. 187-190

 

Die Richterin behauptet hypothetisch, dass durch eine Beibehaltung der gemeinsamen Sorge "weitere Konflikte vorprogrammiert" wären, "wobei die leittragenden letztendlich jeweils die Kinder sind."

Abgesehen davon, dass "leidtragend" mit "d" geschrieben und nicht mit "t" geschrieben wird, unterstellt die Richterin offenbar, dass durch einen Sorgerechtsentzug, so wie von ihr angeordnet, das Gegenteil eintrete, weitere Konflikte würden nicht mehr auftreten und somit würden die Kinder nicht leidtragend werden. Das dies reines Wunschdenken der Richterin ist, soll hier unterstellt werden. Das aktuelle Schreiben der Rechtsanwaltschreiben Frau ... vom 07.06.2004 als Vertreterin der Mutter, zeigt, dass auch nach Entzug des Sorgerechtes, der Konflikt der Eltern nicht gelöst ist.

Für die Frage des Sorgerechtes ist es nicht von Bedeutung, ob Konflikte aus der Sicht der Richterin vorprogrammiert erscheinen mögen, denn bezüglich des gemeinsamen Sorgerechtes geht es immer nur um Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung, nicht jedoch um Einzelfragen von untergeordneter Bedeutung.

 

§ 1687 BGB (Entscheidungsrecht bei gemeinsamer elterlicher Sorge getrennt lebender Eltern)

(1) Leben Eltern, denen die elterliche Sorge gemeinsam zusteht, nicht nur vorübergehend getrennt, so ist bei Entscheidungen in Angelegenheiten, deren Regelung für das Kind von erheblicher Bedeutung ist, ihr gegenseitiges Einvernehmen erforderlich. Der Elternteil, bei dem sich das Kind mit Einwilligung des anderen Elternteiles oder auf Grund einer gerichtlichen Entscheidung gewöhnlich aufhält, hat die Befugnis zur alleinigen Entscheidung in Angelegenheiten des täglichen Lebens. Entscheidungen in Angelegenheiten des täglichen Lebens sind in der Regel solche, die häufig vorkommen und die keine schwer abzuändernde Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes haben. Solange sich das Kind mit Einwilligung dieses Elternteils oder auf Grund einer gerichtlichen Entscheidung bei dem anderen Elternteil aufhält, hat dieser die Befugnis zur alleinigen Entscheidung in Angelegenheiten der tatsächlichen Betreuung. §1629 Abs.1 Satz 4 und §1684 Abs.2 Satz 1 gelten entsprechend.

(2) Das Familiengericht kann die Befugnisse nach Absatz 1 Satz 2 und 4 einschränken oder ausschließen, wenn dies zum Wohl des Kindes erforderlich ist.

 

 

Der in der Praxis schwerwiegendste Bereich, in dem sich ungelöste Konflikte manifestieren, ist ohnehin der Bereich des Umgangsrechtes. Die Konflikte dort lassen sich aber nicht vermeiden, in dem man einem Elternteil das Sorgerecht entzieht. Es sei denn man gelangt zu der Auffassung, dass einem Elternteil auch noch das Umgangsrecht entzogen werden sollte, wie es in der Praxis als vorgeblicher Konfliktlösungsversuch hier und da noch anzutreffen ist.

Die Richterin konnte schließlich nicht aufzeigen, bei welcher Frage von erheblicher Bedeutung sie einen Konflikt vorprogrammiert sieht, den sie mit Hilfe eines von ihr angeordneten offenbar präventiv verstandenen Sorgerechtsentzug vorgibt verhindern zu wollen.

Familiendynamisch kann man im Falle eines Sorgerechtsentzug folgende Hypothese aufstellen: Kinder sind ihren Eltern loyal verbunden. Wird ein Elternteil geschwächt, so kann das bei Kindern das Bemühen auslösen, gerade diesen Elternteil zu stärken. Die Kinder bemühen sich darum eine Balance herzustellen (vgl. Boszormenyi-Nagy, Ivan; Spark, G.M.: "Unsichtbare Bindungen. Die Dynamik familiärer Systeme"; Klett Cotta, Stuttgart, 1981; Original 1973 (Mehrgenerationaler Ansatz. Die Balance von Geben und Nehmen).

Wird wie im vorliegenden Fall die innerfamiliäre Balance von außen gestört (Sorgerechtsentzug) müssen die Kinder die gestörte Balance wieder herstellen. Dies ist offenbar schon geschehen, in dem der jüngere Sohn den Kontakt zur Mutter verweigert.

Die Richterin postuliert dann: "Das Wechselmodell scheidet jedoch aufgrund der erheblichen Kommunikationsstörungen zwischen den Eltern grundsätzlich aus" (S. 5) Warum das so sein soll, führt sie nicht weiter aus. Offenbar gilt hier das eigene Gerechtigkeitsempfinden der Richterin, dem sie unbegründet eine Allgemeingültigkeit verleihen will (vgl. dazu Schneider, Egon: "Die Gerichte und die Abwehrmechanismen", In: "Anwaltsblatt", 6/2004, S. 333-338).

 

Dann schreibt die Richterin: "Somit war die elterliche Sorge auf die Kindesmutter zu übertragen." (S. 5)

Abgesehen von der antiquierten Bezeichnung einer Mutter mit dem abwertenden Begriff "Kindesmutter", stellt sich die Frage, was die Überlegung von Pro und Contra bezüglich eines Wechselmodells mit der Frage zu tun haben soll, ob einem Elternteil das Sorgerecht entzogen werden sollte.

Die Richterin behauptet dann: "Diese Entscheidung widerspricht den geäußerten Willen der Kinder nicht." (S. 5).

Es ist hier nicht bekannt geworden, dass die Kinder sich für einen Sorgerechtsentzug für einen ihrer beiden Eltern ausgesprochen hätten, von ist eine deutliche Diskrepanz zwischen den Kindern und der beschließenden Richterin erkennbar.

 

Die Richterin spricht schließlich die Frage der geschlechtlichen Identitätsentwicklung der beiden Söhne an. Dabei meint sie festlegen zu können, wann der Vater eine Vorbildrolle übernehmen könne und wann nicht: "Diese Vorbildrolle kann der Vater im vorliegenden Fall aber nur übernehmen, wenn eine Konsensfähigkeit und Bereitschaft zwischen den Eltern vorhanden ist" (S. 5)

Die Argumentation der Richterin kann hier nicht überzeugen. Kinder suchen sich nun mal ihre Vorbilder ohne die Empfehlungen von Eltern, Lehrern, Richter/innen oder anderen Autoritätspersonen aus. So kommt es oft, dass die verschiedensten Rock- und Popidole, an den Wänden der lieben Kleinen kleben, möglicherweise auch Bilder von rechtsextremen oder anderweitig befremdlich wirkenden Bands und sich mancher Elternteil verzweifelt die Haare rauft, angesichts dessen, dass das eigene elterliche Vorbild nicht sehr nachhaltig auf das eigene Kind gewirkt zu haben scheint.

Die Richterin bringt hier wohl mehr ihre eigene Moralauffassung zur Sprache, als dass sie sich mit der Lebensrealität von Kindern und Jugendlichen zu beschäftigen scheint. Mit Sicherheit dürfte es so sein, dass Söhne, deren Vater vom Gericht das Sorgerecht entzogen wird, Schwierigkeiten haben, ihren Vater, der ja in der Regel die zentrale männliche Identifikationsfigur für seine Söhne ist, unbeschädigt wahrzunehmen. Dies kann nicht ohne Störung der sich bei den Söhnen entwickelnden männlichen Geschlechtsidentität einhergehen, denn die Söhne erleben ihren Vater in den Augen der Gesellschaft (des Gerichtes) als wenig wertvoll, wenn es so ist, dass die Gesellschaft (das Gericht) ihm das Sorgerecht entzieht und ihn damit im Status unter den Status einer Frau und Mutter stellt. Das Männliche erscheint damit als offenbar fehlerbehaftet, es stellt sich so die Frage, wie Jungen diese gesellschaftlich konstruierte Defizitzuweisung an ihren Vater in ihrem Selbstbild korrigieren können?

 

 

 

 

Fazit:

Es bleibt zu hoffen, dass das Oberlandesgericht bei seiner Beurteilung mehr Fachkunde erkennen lässt, als es wohl beim Gericht der 1. Instanz der Fall war. Die Kinder werden es unausgesprochen danken und später rückblickend wohl auch beide Eltern, wenn ihre Söhne sie einmal fragen, wie es gelang, den Streit zu beenden und beiden Eltern wieder den ihnen gebührenden Platz zu geben.

 

 

 

 

 

 

Peter Thiel, 02.07.2004

 

 

Literatur:

Boszormenyi-Nagy, Ivan; Spark, G.M.: "Unsichtbare Bindungen. Die Dynamik familiärer Systeme"; Klett Cotta, Stuttgart, 1981; Original 1973 (Mehrgenerationaler Ansatz. Die Balance von Geben und Nehmen)

Carl, Eberhard: "Im Familiengerichtsverfahren: Den Eltern die Verantwortung für die Lösung der Konflikte zurückgeben"; In: "Familie, Partnerschaft, Recht", 4/04, S. 187-190

Kaiser, Dagmar: "Elternwille und Kindeswohl - für das gemeinsame Sorgerecht geschiedener Eltern", In: "Familie, Partnerschaft, Recht", 2003, Heft 11, S. 573-578

Knappert, Christine: "Wenn ein Elternteil nicht will, kann man nichts machen!? Welche Chancen bietet das neue Kindschaftsrechtsreformgesetz für Jugendämter und Familiengerichte, der bisher so erfolgreichen `Kopfschüttelstrategie` eines Elternteils ein Ende zu setzen?"; In: "Kind-Prax", 2/1998, S. 46-49

Maiwald, Kai-Olaf; Scheid, Claudia; Seyfarth-Konau, Elisabeth: "Latente Geschlechterdifferenzierungen im juristischen Handeln. Analyse einer Fallerzählung aus der familiengerichtlichen Praxis"; In: "Zeitschrift für Rechtspsychologie", Juli 2003, S. 43-70

Schneider, Egon: "Die Gerichte und die Abwehrmechanismen", In: "Anwaltsblatt", 6/2004, S. 333-338

Watzlawick, Paul; Beavin, Janet H., Jackson, Don D.: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien", Verlag Hans Huber, Bern, Stuttgart, Toronto 1969/1990

 

 

 

 

 

Nachtrag:

In der auf Grund einer Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichtes Grimma erfolgten Anhörung am 06.07.2004 am Oberlandesgericht Dresden, an dem der Verfasser der Stellungnahme teilnahm, haben sich beide Eltern auf einen Vergleich geeinigt. Dieser sieht vor, dass die gemeinsame Sorge vollständig beibehalten wird. Der Beschluss des Amtsgerichts Grimma wurde somit aufgehoben.

Der jüngere Sohn wohnt zukünftig beim Vater und der ältere bei der Mutter. An jedem Wochenende sind beide Kinder gemeinsam bei einem der beiden Elternteile. Eine Ferien- und Feiertagsregelung wurde erarbeitet. Das Oberlandesgericht beschloss ferner die Einrichtung einer Umgangspflegschaft mit der Frau K. beauftragt wurde.

 

 

 

 


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