Stellungnahme zum Gutachten von Dr. Michael Wiedemann

vom 11.08.2003

 

Familiensache X (Vater) und Y (Mutter)

am Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg

Geschäftsnummer: 170 F 8398/01

Richterin Wagner

 

 

Kind A, geb. ... .1997

 

 

 

Erarbeitung der Stellungnahme durch Peter Thiel

 

 

 

Gerichtliche Fragestellung laut Beschluss vom 31.03.2003:

 

"Es soll ein Gutachten ... zu der Frage eingeholt werden, ob im Hinblick auf die emotionalen Bindungen des Kindes und die emotionalen Fähigkeiten der Eltern die Mutter oder der Vater besser zur Betreuung des Kindes geeignet ist."

 

 

Die hier vorliegende Stellungnahme bezieht sich auf das vorliegende 91-seitige schriftliche Gutachten und ein dreißigminütiges Telefonat mit der Mutter.

 

 

 

Einführung

Das vorliegende Gutachten weist eine Reihe von Mängeln auf, die eine Verwertung für das gerichtliche Verfahren erschweren.

Der beauftragte Sachverständige (SV) überschreitet den ihm vom Gericht gesetzten Auftrag, in dem er dem Gericht ungefragt Empfehlungen zum Aufenthaltsbestimmungsrecht gibt (S. 91). Dies gegebenenfalls zu entscheiden, ist Aufgabe des Gerichtes, nicht aber des zur Beantwortung der gerichtlichen Beweisfrage eingesetzten Sachverständigen. Eine unzulässige Beeinflussung des Gerichtes liegt damit nahe.

 

 

 

 

Begründung

I. Allgemeines

Transparenz der Arbeit des Sachverständigen

Die Beteiligten sollten vom Sachverständigen über die Freiwilligkeit ihrer Teilnahme und Mitarbeit, insbesondere auch der Freiwilligkeit ihrer Teilnahme an psychodiagnostischen Tests, informiert werden. Dies ist bedauerlicherweise nicht geschehen.

Sachverständigentätigkeit ist keine Geheimwissenschaft. Es wäre günstig gewesen, wenn der Sachverständige im Interesse wünschenswerter Transparenz und Akzeptanz den Beteiligten vorab ein Informationsblatt zu den Grundprinzipien seiner Arbeit zur Verfügung gestellt hätte. Hier hätte er auch den von ihm vertretenen Arbeitsansatz und sein theoretisches Arbeitsmodell, z.B. systemisch, tiefenpsychologisch, psychoanalytisch oder behavioristisch, statusdiagnostisch, interventionsdiagnostisch oder systemisch-lösungsorientiert darstellen können sowie Informationen wie z.B. den vorgesehenen Ablauf der Begutachtung oder die Form des diagnostischen Vorgehens. Dies hätte die Betroffenen für eine konstruktive Mitarbeit motivieren können.

Der SV hat keine Angaben darüber gemacht, ob er die Gespräche mit den Eltern mit Tonband aufgezeichnet hat. Sollte dies der Fall sein, so wäre es interessant zu erfahren, in welcher Form der SV mit den Eltern das Thema ihres ersten Geschlechtsverkehrs besprochen hat, das er auf den Seiten 28 und 44 darstellt.

 

Das Gericht stellte an den SV den Auftrag, zu untersuchen, "ob im Hinblick auf die emotionalen Bindungen des Kindes und die emotionalen Fähigkeiten der Eltern die Mutter oder der Vater besser zur Betreuung des Kindes geeignet ist."

Der SV hat sich jedoch nicht darauf beschränkt, diesem klaren Auftrag des Gerichts nachzukommen. Vielmehr hat er darüber hinausgehend Ermittlungen angestellt, ohne sich dies vorher vom Gericht als Arbeitsauftrag bestätigen zu lassen.

 

Die Arbeitsweise der SV ist offensichtlich statusdiagnostisch orientiert. Eine interventionsdiagnostische oder systemisch-lösungsorientierte Arbeitsweise, so wie es nach §1627 BGB und §52 FGG erwartet werden muss (vgl. Bergmann; Jopt; Rexilius, 2002), ist nicht zu erkennen. Der SV hat es insbesondere unterlassen, beide Eltern zu einem gemeinsamen Gespräch mit ihm einzuladen, um den Auftrag des Gerichtes mit ihnen zu erörtern. Das mag mit der sonstigen Arbeitsweise des SV erklärbar sein, die aktuelle Fachdiskussion ist hier wesentlich weiter. Gefragt werden muß, ob der SV somit seiner Verpflichtung aus § 410 Abs. 1 ZPO nachgekommen ist, sein Gutachten nach besten Wissen, also auf der Grundlage des aktuellen Standes der Wissenschaft zu verfertigen. Hierzu Bode (2001, S. 143): "Im Übrigen sollte doch mindestens der Rechtsanwender nicht noch länger ignorieren, dass der - auch - intervenierende Sachverständige seit langem zum wohl gesicherten Erkenntnisstand der psychologischen Forschung gehört und derjenige Sachverständige, der nicht interveniert (also mindestens zu vermitteln versucht), seine Verpflichtung aus § 410 Abs. 1 ZPO verletzt, sein Gutachten nach besten Wissen, also auf der Grundlage gesicherten Wissensstandes seiner Wissenschaft und deren Erkenntnissen zu verfertigen."

An anderer Stelle Schade/Friedrich (1998): "Vor allem geht es nicht um die psychologische Untersuchung der familiären Konstellation zum Zeitpunkt der Begutachtung, der keinesfalls repräsentativ ist. Vielmehr steht der Prozeßcharakter im Vordergrund. Die Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit der Eltern als integrative Aspekte ihrer Erziehungsfähigkeit werden nicht als persönliche Eigenschaften verstanden, sondern als Resultat von Lernbereitschaft und Lernprozessen, die sich in der konkreten familiären Situation entwickeln können. ... Die weitgehend unstrittige Forderung, die klassische Statusdiagnostik zugunsten der interventionsdiagnostischen Bemühungen des Gutachters auf ein angemessenes Minimum zu reduzieren, ergibt sich geradezu demonstrativ, wenn man feststellt, dass die aus einer traditionellen Begutachtung abgeleiteten Erkenntnisse auch nicht annähernd in der Lage sind, komplexe Fragen nach sozialen Kompetenzen, Kooperations-bereitschaft, Lernfähigkeit und Motivation der Eltern zum Finden konstruktiver Lösungen und Umsetzungen zu beantworten."

Zur Frage ob der SV auch interventionsdiagnostisch arbeiten sollte Karle/Klosinski: "Versteht man Scheidung und Trennung nicht als singuläre Ereignisse, sondern als Prozesse, dann stellt sich zwangsläufig die Frage, ob es ausreichend ist, sich mit der Feststellung eines Zustands zu begnügen und daraus entsprechende Empfehlungen abzuleiten, oder ob es nicht sinnvoller oder gar erforderlich ist, modifizierend in diesen Prozess einzugreifen. Der Begriff >>Interventionsgutachten<< umschreibt diesen Sachverhalt. Dies ist nur möglich auf ausdrücklichen Wunsch eines Gutachtenauftraggebers, könnte aber in solchen Begutachtungsfällen auch nach den ersten Explorationen von Seiten des Sachverständigen dem Gericht vorgeschlagen werden. Der Gutachter wäre dann in gewissen Sinne ein `Mediator` auf Wunsch des Gerichtes." (Karle; Klosinski 2000)

 

 

 

Kindeseltern

Der Sachverständige verwendet im Gutachten durchgängig die antiquierten, vormundschaftlichen und Distanz herstellenden Begriffe "Kindesvater", "Kindesmutter" und "Kindeseltern" eine Begrifflichkeit, die nicht geeignet ist, die Eltern als das zu sehen und zu fördern, was sie sind, nämlich Vater und Mutter (vgl. Kaufmann 1999). Gleichzeitig vermerkt der SV offenbar kritisch, dass der Sohn die Mutter mit "... " und nicht mit "Mutter" oder "Mama" benennt (S. 53). Nach Auffassung des SV sollte der Sohn seine Mutter wohl besser mit "Kindesmutter" benennen.

Die Mutter verwahrt sich gegenüber dem SV zu Recht gegen die von ihm verwendete Begrifflichkeit (S. 12). Der SV nimmt dies zum Anlass der Mutter zu unterstellen, sie wolle damit "den Kindesvater als Vater depotenzieren" (S. 78).

Herr Wiedemann stelle sich einmal vor, er wäre selbst Vater und ein anderer Mensch würde ihn als "Kindesvater" bezeichnen. Vielleicht nimmt der SV wenigstens diese Stellungnahme zum Anlass für die Zukunft die notwendige Veränderung vorzunehmen.

 

 

 

Zeiten

Über den konkreten Tag und die Zeitdauer der jeweiligen Begegnungen des SV mit den Beteiligten erfahren wir im Gutachten leider nichts (z.B. S. 11)

 

 

 

 

II. Einzelpunkte

zu "3. Befunde zur Kindesmutter", "Befunde zum Kindesvater"

Der SV übt sich, dargestellt auf den Seiten 11 bis 45, im Rückschau auf die Vergangenheit. Dabei verkennt er, dass das Gericht weder nach der Lebensgeschichte der Eltern noch nach deren Partnerschaft gefragt hat, sondern, um es nochmals zu wiederholen: "... ob im Hinblick auf die emotionalen Bindungen des Kindes und die emotionalen Fähigkeiten der Eltern die Mutter oder der Vater besser zur Betreuung des Kindes geeignet ist."

 

Die erzählte Lebensgeschichte der Eltern steht in keinem linear-kausalen Zusammenhang mit der Frage der emotionalen Bindungen und Fähigkeiten der Eltern. So gibt es Menschen, die eine relativ gut behütete Kindheit hatten und trotzdem Straftäter geworden sind und umgekehrt gibt es Menschen, die eine sehr schwierige Kindheit hatten und später trotzdem emotional sehr ansprechbare Menschen geworden sind.

Der SV hätte sich angesichts der gerichtlichen Frage auf die Gegenwart beschränken müssen. Möglicherweise ist ihm dieser Fehler unterlaufen, weil er zwischen seine Rolle als Psychotherapeut und Sachverständiger nicht unterscheiden konnte. Bei einzelnen Fragen des SV wird dies besonders deutlich. So fragt der SV die Mutter, "was sie am Kindesvater damals (ca. 1995) faszinierend gefunden habe." (S. 13). Der SV möge dem Gericht erläutern, welche Relevanz diese Frage zum gerichtlichen Auftrag hat.

Der SV berichtet, er hätte versucht von der Mutter eine Schweigepflichtsentbindung gegenüber Dr. ... , Arzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapie, bei dem die Mutter einmalig im Jahr 2000 gewesen sein soll, zu bekommen (S.23). Wozu der SV eine solche Schweigepflichtsentbindung haben wollte, bleibt unklar. Zum einen lag der Termin schon drei Jahre zurück, zum anderen fand er einmalig statt. Wozu also das ganze Bemühen des SV? Bei einem ungeübten Leser des Gutachtens kann dadurch leicht der Eindruck erweckt werden, die Mutter wäre psychisch behandlungsbedürftig und dies aufzuklären wäre offenbar so wichtig, dass der SV sogar versucht mit dem vor drei Jahren behandelnden Arzt zu sprechen. Im übrigen stellt sich die Frage, welche Aufklärung der SV sich von Dr. ... erhoffte, die er auf Grund fehlender eigener Sachkompetenz anscheinend nicht selbst leisten kann.

 

Auf den Seiten 11 bis 45 gibt der SV den Eltern breiten Raum die eigene Sicht auf ihre persönliche Lebensgeschichte und den jeweils anderen Partner darzustellen. Dies kann für ein erhofftes Verstehen des familiären Konfliktes durchaus angemessen sein. Unklar bleibt jedoch die Relevanz hinsichtlich der gerichtlichen Frage: "... ob im Hinblick auf die emotionalen Bindungen des Kindes und die emotionalen Fähigkeiten der Eltern die Mutter oder der Vater besser zur Betreuung des Kindes geeignet ist."

Diese Frage kann ich jedoch nicht beantworten in dem ich die Eltern über ihre eigene Geburt befrage, bzw. erzählen lasse (S. 23), bzw. dass die Eltern Flüchtlinge gewesen wären (S. 40).

Die Sicht der Eltern auf den jeweils anderen Elternteil kann wohl kaum zur Beantwortung der gerichtlichen Fragestellung beitragen, da sie aus verständlichen Gründen stark subjektiv und von gegenseitigen Misstrauen geprägt ist. Wäre dies nicht so, würden die Eltern nicht vor dem Familiengericht streiten oder sich in einer Familienberatungsstelle um die Klärung ihres Konfliktes bemühen. Es ist also weniger zu überlegen, welchem Bericht eines Elternteils welcher Wahrheitswert zu kommt, sondern zu sehen, dass eine massive Kommunikationsstörung zwischen den Eltern herrscht, die offenbar nur mit professioneller Unterstützung aufzuheben ist.

 

 

 

Grenzüberschreitung durch den SV

Wenn der SV offenbar befragt und feststellt, dass der Vater "im Alter von 18 Jahren zum ersten Mal mit einem Mädchen (mit einer 16-jährigen) geschlafen" habe (S. 44) und die Mutter das "erste Interesse für Männer (im Sinne des ersten Geschlechtsverkehrs)", "im Alter von 21 Jahren" gehabt habe (S. 28), so muss diese gerichtsöffentliche Darstellung intimer Verhältnisse der Eltern als eine unverantwortliche Grenzüberschreitung des SV gekennzeichnet werden.

Der SV bemängelt dann, dass im Zimmer von Marius im mütterlichen Haushalt "keine Bilder von ihm, der Kindesmutter, dem Kindesvater oder der Schwester" wären (S. 51, S. 82). Wieso der SV das für kritikwürdig hält, erläutert er nicht. Dass im väterlichen Haushalt "mehrere Bilder von der Kindesmutter zusammen mit A vorhanden waren" (S. 63, S. 77), macht das ganze nicht erklärlicher.

 

 

 

"Testpsychologische Untersuchungen"

Der SV führt mit A den "Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder", den "Familien- und Kindergarten-Interaktionstest (FIT-KIT; 2000)", den "Familiy Relations Test (FRT), den "Hamster-Test" Deegener, den "Thematischen Gestaltungstest (TGT; 1985) und den "Familien-Beziehungtest" (FBT) durch (S. 64-69).

Wozu der SV diese Batterie von 6 Testverfahren insbesondere des Intelligenztests durchführt, wird von ihm nicht erläutert. Zum allgemeinen Wert von psychodiagnostischen Tests schreibt Jopt (1992, S. 284/296): "Ausnahmslos alle Gutachter scheinen unerschütterlich davon überzeugt zu sein, dass für eine die Gerichte beeindruckende Dokumentation ihres professionellen Könnens der Einsatz von Testverfahren .. absolut unverzichtbar ist."

 

Der SV misst dem Einsatz von projektiven, halbprojektiven und quantifizierenden psychodiagnostischen Tests einen hohen Stellenwert bei, der wissenschaftlich nicht zu halten ist. Dazu Rexilius (Bergmann; Jopt; Rexilius, 2002, S. 153): "Diese Tests sind zumeist projektive und halbprojektive Verfahren, deren methodische Grundlagen fragwürdig sind und einer Interpretationswillkür unterliegen, die sie für die Praxis unbrauchbar macht; selbst in den Fällen, die Regeln für die Deutung der Testergebnisse vorgeben, zeigt sich in der Praxis, dass die Anwender ihre eigenen Deutungen und subjektiven Interpretationen vorziehen, Die quantifizierenden Verfahren haben andere, aber nicht weniger gravierende Schwächen: Ihre Validität, also die Gültigkeit ihrer Messergebnisse, hält keiner theoretischen und methodischen Kritik stand, viele Einflussfaktoren bleiben unberücksichtigt und sind nicht zu kontrollieren, in den Ergebnissen steckt mithin alles Mögliche, ... "

 

Zu den Gütekriterien psychodiagnostischer Tests Leitner (2000):

"Nicht nur in Fällen, bei denen unkonventionelle Verfahren zur Anwendung kamen, die in einschlägigen Testhandbüchern nicht verzeichnet sind, sollte es aber Aufgabe der Sachverständigen sein, über die Erfüllung der Gütekriterien im Gutachten Rechenschaft abzulegen und damit die Aussagegültigkeit der testdiagnostischen Basis auch für das Gericht nachvollziehbar zu erörtern. Dies wäre gleichsam ein ganz wesentlicher Beitrag zur Transparenz der Aussagegültigkeit von Entscheidshilfen für das Gericht und zur Qualitätssicherung bzw. Qualitätsverbesserung, die es nachdrücklich anzustreben gilt."

 

 

 

Testpsychologische Untersuchung mit dem FRT

Zum verwendeten "Family-Relation-Test" kritisch Leitner ("Zur Mängelerkennung in familienpsychologischen Gutachten" in "Familie und Recht" (FuR), 2/2000, S. 57-63):

 

"...

Anmerkungen zum Family-Relations-Test (FRT)

Das zusammen mit dem im Hinblick auf die Gütekriterien völlig unzureichendem Test "Familie in Tieren" (Brem-Gräser, 1995) insgesamt am häufigsten eingesetzte Verfahren, der Family-Relations-Test von Bene und Anthony (1957), ist im Testhandbuch von Brickenkamp (1997) explizit nicht verzeichnet. Seine Spitzenposition in der Rangfolge verdankt das Verfahren insbesondere der Tatsache, daß er in Gutachten der Gesellschaft für wissenschaftliche Gerichts- und Rechtspsychologie (GWG) ausgesprochen häufig zum Einsatz kommt. Zwölf der insgesamt 16 Anwendungen dieses Verfahrens betreffen solche Gutachten. Insbesondere bei diesem Testverfahrens läßt sich erkennen, daß ausgeprägte organisationsspezifische Besonderheiten beim Einsatz bestimmter Tests offenbar kaum von der Hand zu weisen sind.

Auf Grund seiner Häufigkeit in den vorliegenden familienpsychologischen Gutachten sollen zu diesem Testverfahren noch einige ergänzende Anmerkungen gemacht werden:

Beim FRT handelt es sich um ein Verfahren, das in einer Übersetzung von Fläming und Wörner (1977) in Fassungen für vier- bis fünfjährige sowie für sechs- bis elfjährige Kinder vorliegt (vgl. Beelmann, 1995, S. 38). Beelmann referierte und diskutierte bei der Tagung der Fachgruppe Entwicklungspsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie e.V. in Leipzig im Jahre 1995 "neuere Untersuchungen mit dem Family-Relations Test". Hierbei wurde deutlich, daß die Validität dieses Verfahrens zum gegenwärtigen Zeitpunkt keineswegs als gesichert gelten kann. Im Rahmen seines Vortrages und der anschließenden Diskussion bezeichnete Beelmann den Umgang mit diesem Verfahren in der diagnostischen Praxis zudem als "haarsträubend" und verwies in diesem Zusammenhang u. a. darauf, daß aus ökonomischen Gründen bei der praktischen Durchführung häufig instruktionsinadäquate Modifikationen vorgenommen werden."

 

 

 

 

zu "4. Zusammenfassung und Beurteilung"

Der Sachverständige übt sich in Vergangenheitsbetrachtungen. So bescheinigt er dem Vater "zeigt in manchen Situationen suboptimale Verhaltensweisen. So hat er z.B. ... lange studiert, ohne einen Abschluss zu erreichen" (S. 72). Diese Zurechtweisung des SV gegenüber dem Vater wirkt sehr oberlehrerhaft. Es steht dem SV nicht zu, rückwärtsgewandte Verhaltensnoten an einen Elternteil auszustellen.

 

 

 

zu 5. Beantwortung der Fragen des Gerichtes

Der SV attestiert abschließend der Mutter eine eingeschränkte "Erziehungsfähigkeit" und fehlende Bindungstoleranz (S. 91). Der SV schließt seinen Attest die unausgesprochene Empfehlung an das Gericht an, dass das Kind in den Haushalt des Vaters nach ... wechseln sollte. Es war aber nicht Aufgabe des Gerichtes an den SV Empfehlungen über den Aufenthalt des Kindes abzugeben, sondern:

 

"Es soll ein Gutachten ... zu der Frage eingeholt werden, ob im Hinblick auf die emotionalen Bindungen des Kindes und die emotionalen Fähigkeiten der Eltern die Mutter oder der Vater besser zur Betreuung des Kindes geeignet ist."

 

Der SV hätte also schreiben müssen, welchen der beiden Elternteile er für die Betreuung des Kindes für besser geeignet hält. Dies hat er in seiner abschließenden "Beantwortung der Fragen des Gerichts" (S. 89-91 eigenartiger Weise nicht getan. Statt dessen schreibt er defizitorientiert von den vermeintlichen oder tatsächlichen Schwächen der Mutter.

Der SV vergleicht Äpfel und Birnen. Der Vater, der keinen Alltag mit seinem Sohn lebt, wird vom SV mit der Mutter verglichen, die seit Anfang 2000 (vgl. S. 17) den Sohn allein betreut und erzieht. Von daher ist es spekulativ und gewagt, dem Vater die bessere Erziehungseignung zu attestieren. Dies kann letztlich erst dann festgestellt werden, wenn das Kind tatsächlich vom Vater in ... betreut wird. Das Kind sollte aber nicht zum Objekt von Experimenten gemacht werden.

Ein möglicher Wechsel des Sohnes zum Vater birgt eine Reihe von Risiken. Zum einen ist völlig offen, ob der Vater eine ständige Betreuung des Sohnes besser als die Mutter leisten kann und wird. Zum anderen ist zu fragen, wie sich bei einem Wechsel die Umgangskontakte zwischen Mutter und Sohn gestalten würden. Bei der derzeitigen gestörten Kommunikation zwischen den Eltern muss man befürchten, dass die Sache kippt und der Kontakt zwischen Mutter und Sohn gefährdet wäre. Der Sohn sitzt so oder so in der Falle der gestörten elterlichen Kommunikationsstörung.

Der Sachverständige unterlässt es bedauerlicherweise aufzuzeigen, wie die Eltern ihre elterliche Kompetenz einzeln und gemeinsam stärken und entwickeln können. Dazu Weber (2002): "Die bisherige Gutachten- und Sachverständigenpraxis greift in der Regel zu kurz, weil sie die Beziehung des Kindes zu Vater und Mutter ins Auge fasst, jedoch nicht die Konfliktdynamik und Störungen des Paar- bzw. Elternsystems."

 

 

 

 

Was ist zu tun?

Um die Gegenwart und Zukunft ihres gemeinsamen Kindes zu sichern, müssen beide Eltern, gegebenenfalls mit kompetenter fachlicher Unterstützung lernen, ihre gemeinsamen Konflikte zu lösen und sich so in die Lage zu versetzen, ihrer gemeinsamen elterlichen Verantwortung gerecht zu werden. Familienberatung oder Familientherapie kann dafür ein geeigneter Weg sein. Hier alleine auf die Freiwilligkeit der Eltern zu bauen, reicht oft nicht aus. Daher sollte das Gericht gegebenenfalls die Teilnahme der Eltern an einer Familientherapie anordnen.

 

OLG Stuttgart, Beschluss vom 26.07.2000 - 17 UF 99/00: Die Wohlverhaltenspflicht aus §1684 Abs. 2 S. 1 BGB beinhaltet auch die Verpflichtung der Eltern, zur Ermöglichung eines regelmäßigen Umgangskontakts eine Therapie zu machen.

Amtsgericht Ebersberg, März 2002 - 002 F 00326/00: Anordnung zur Inanspruchnahme von Psychotherapie durch die das Kind in Obhut habende Mutter.

 

 

Letztlich wird sich eine Entscheidung des Gerichts auch am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu orientieren haben. Das heißt, wenn es Gründe gibt, die Interaktion zwischen Mutter und Sohn zu verbessern, käme die Unterstützung durch eine Hilfe zur Erziehung nach § 27-32 KJHG in Frage (vgl. Reuter-Spanier 2003).

Erziehungsberatung ist dabei sicher das Mittel der ersten Wahl, um die Mutter bei der Wahrnehmung ihrer elterlichen Verantwortung zu unterstützen. Auch eine Erziehungsbeistandschaft nach § 30 KJHG könnte eine geeignete Form der Unterstützung sein. Gegebenenfalls wäre daran zu denken, dass das Gericht von der Mutter eine verbindliche Zusage zur Teilnahme abverlangt, die Mutter die beratende Stelle von der Schweigepflicht entbindet und das Gericht nach einem geeigneten Zeitraum von dort Bericht einholt.

Die Frage der Umgangskontakte zwischen Vater und Sohn ist zweifellos wichtig. Aber auch hier bedarf es nicht eines Wohnortwechsels vom Sohn zum Vater, um eine Verbesserung zu erzielen, sondern gegebenenfalls eine für beide Eltern verbindliche Umgangsregelung oder wenn dies nicht ausreichen würde, die Einrichtung einer Umgangspflegschaft, wofür der Unterzeichnende, der selber auch als Umgangspfleger tätig ist, seine Mitwirkung anbieten würde.

Schließlich müssen die Eltern lernen, wieder miteinander konstruktiv zu kommunizieren. Auch dafür kann es sinnvoll sein, dass das Gericht entsprechende Auflagen erteilt, so z.B. zu monatlichen gemeinsamen Gesprächen in einer Familienberatungsstelle.

Die Aufzählung zeigt, dass es vor einem eventuellen Wechsel des Sohnes in den Haushalt des Vaters eine Reihe von Möglichkeiten gibt, bestehende Probleme zu lösen.

 

 

 

...

 

 

Peter Thiel, 04.10.2003

 

...

 

 

 

 

 

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