Stellungnahme zum Gutachten der Diplom-Psychologin Dr. phil. Dorit Schulze vom 27.06.2003
Familiensache X (Vater) und Y (Mutter)
am Amtsgericht Dresden
Geschäftsnummer: 304 F 01476/02
Richter: Herr Hartel
Kind: A (Tochter) , geb. ....2000
Erarbeitung der Stellungnahme durch Peter Thiel
überarbeitet am 26.11.2008
Gerichtliche Fragestellung laut Beschluss vom 09.12.2002:
Die hier vorliegende Stellungnahme bezieht sich auf das vorliegende 100-seitige schriftliche Gutachten, weiter dazugehörige Akten und ein eineinhalbstündiges persönliches Gespräch des Unterzeichnenden mit dem Vater und der ihn vertretenden Rechtsanwältin Frau W.
Die Empfehlung der Sachverständigen (SV) vermag den Unterzeichnenden nicht zu überzeugen. Das Gutachten weist eine Reihe von zu kritisierenden Punkten und einen teils konfusen Sprachstil auf, auf die hier auf Grund der Zeit im einzelnen vorerst nicht eingegangen werden kann. Letztlich sind die von der SV gemachten Fehler aber auch auf das zu kritisierende Ergebnis ihrer Empfehlung nicht von allzu großer Relevanz.
Die mehrfach vorgetragene Behauptung der Sachverständigen (so z.B. S. 94), dass das Wechselmodell die empfehlenswerte Betreuungslösung für das Kind sei, kann nicht überzeugen.
Die Praktikabilität des Wechselmodell ist derzeit in der Fachdiskussion umstritten (vgl. Rakete-Dombek, 2002). Der Unterzeichnende ist in der Fachdiskussion dafür aufgetreten, dass Wechselmodell als eine im Einzelfall durchaus geeignete Möglichkeit der Betreuung des Kindes durch seine Eltern zu nutzen. Dies ist allerdings zur dann denkbar, wenn die Eltern im unmittelbarer Nähe wohnen und so der Bezugsrahmen des Kindes (Nachbarskinder, Spielplatz, Kindergarten, Schule, etc.) der selbe bleibt auch wenn das Kind im festgelegten Rhythmus zwischen den Wohnungen der Eltern pendelt.
Die Meinung der SV, man könne ein 3-jähriges Kind im 14-Tagesrythmus zwischen Hunderte Kilometer entfernten Wohnorten der Eltern pendeln lassen, es als Gastkind in zwei Kindergärten anmeldet, ist völlig irrig. Wenn so etwas beschlossen würde, wäre das der erste bekannt gewordene Fall in Deutschland und würde mit Sicherheit vor dem Oberlandesgericht weiterbehandelt werden.
Dass die SV überhaupt so eine Empfehlung abgibt, hängt mit Sicherheit damit zusammen, dass der betreuende Elternteil des dreijährigen Mädchens der Vater und der umgangswahrnehmende die Muter ist. Das ist relativ ungewöhnlich. "Ein Kind gehört zur Mutter", dies ist die sich dabei automatisch einstellende Assoziation eines Unbeteiligten, den man darauf hin auf der Straße ansprechen würde.
Und so würde im umgekehrten Fall, wo das Kind bei der Mutter lebt und der Hunderte Kilometer entfernte Vater das Wechselmodell beantragen würde, kein Mensch und kein Richter auf die Idee kommen, das Wechselmodell zu beschließen. Jeder der dies ernsthaft empfehlen würde, müsste sich den Vorwurf anhören, er würde nicht mehr ganz klar denken können.
Diese, vom Geschlecht bestimmte Sichtweise (vgl. Maiwald u.a. 2003), ist letztlich auch der Hintergrund der Empfehlung der SV. Die sonstigen von ihr abgegebenen Begründungen, bis hin zu einer Unterstellung einer Kindeswohlgefährdung, wenn das Wechselmodell nicht angeordnet würde, greifen nicht.
Der Antrag der Mutter muss vor diesem Hintergrund zurückgewiesen werden. Statt dessen sollten die Eltern konfliktlösende Unterstützungsmöglichkeiten wie Familienberatung nutzen, um die derzeit bestehenden Probleme im Interesse ihrer Tochter zu lösen.
Peter Thiel, 03.11.2003
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