András Wienands:
Choreographien der Seele. Lösungsorientierte Systemische Psycho – Somatik.
Kösel Verlag, München, 2005, 220 Seiten, 19,50 €
Der Zusammenführung systemischer und körpertherapeutischer Arbeit scheint im deutschsprachigen Raum bisher noch wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden zu sein. Zwar wird dem körperlichen Ausdrucksverhalten des Klienten spätestens seit der Etablierung der Gestalttherapie viel Beachtung seitens des Therapeuten geschenkt, doch tun sich viele, auch systemische Therapeuten wohl noch immer schwer, körpertherapeutisch orientierte Interventionen in ihr Handlungsrepertoire aufzunehmen. Dies mag mit einer typisch deutschen Tendenz zusammenhängen, die Welt über den Kopf be- und ergreifen zu wollen – „Cogito ergo sum (lat. ich denke, also bin ich)“. Dieser, von René Descartes methodisch formulierter Schluss, den er im Anschluss an seinen radikalen Zweifel an die eigene Erkenntnisfähigkeit als nicht weiter zu kritisierendes Fundament in seinem Werk Discours de la méthode (1637) formuliert setzte, kann man als Ausdruck einer in jener Zeit um sich greifenden Bevorzugung rationalen Denkens und damit korrespondierend vom Verstand gelenkter körperlicher Bewegungen verstehen. Dies hat der Menschheit zweifellos einigen Fortschritt gebracht. Man denke nur an die forcierte Entwicklung der Wissenschaft und Produktivkräfte seither. Doch es wurde zunehmend auch deutlich, um welchen Preis der Fortschritt erkauft worden war. So schrieb 1844 Karl Marx in seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten: "Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher auch nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen."
Die Entfremdung des Menschen von seinen Ursprüngen und seinem Körper wurde total und totalitär, das menschliche Leben sinnentleert. Das System steuerte schließlich in die Katastrophe zweier verheerender Weltkriege. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch (Hölderlin).
So weit zur Vorrede, doch nun zum Buch selbst. Dieses Buch ist, (für mich) eine erfreuliche Neuentdeckung. Es handelt sich um eine anregende, kreative und das psychotherapeutische Feld bereichernde Sammlung von systemischen Fragestellungen und körperbezogenen Interventionen, die, wie mir scheint, in jedem Fall einen anregenden Diskurs um die Integration des Körpers in die Systemische Therapie auslösen wird.
Zuerst ein kurzer Abriss des Buches. Das Buch ist in drei Abschnitte unterschieden: der erste Abschnitt ist dem Wort, der zweite dem Gefühl, der dritte dem Körper in der systemischen Therapie gewidmet.
Im ersten Abschnitt beschreibt der Autor die bekannten und zentralen Schulen der Familien-/Systemischen Therapie (mehrgenerational, strukturell, strategisch, narrativ, erfahrungsorientiert, etc.) – wobei ich hier den radikalkonstruktivistischen Ansatz, vertreten durch Paul Watzlawick unbedingt dazunehmen würde - und reichert diese, mit zum Teil sehr spannenden, eigenen Fragestellungen an. Die Zusammenfassung der zentralen Gedanken einer Perspektive in Form von Fragekatalogen am Kapitelende stellt eine willkommene Bereicherung für die Praxis dar. Alleine diesen prägnanten und gut nutzbaren Überblick lohnt es zu lesen. Im Literaturverzeichnis hat der Autor jeweils drei bis vier Werke genannt, die zum vertieften Studium der jeweiligen Perspektive einladen. Hier merkt man deutlich den Lehrcharakter des Buches und dessen Konzeption für Seminar- und Ausbildungszwecke.
Im zweiten Abschnitt stellt der Autor eine neunte, den Körper in die systemische Therapie integrierende, Perspektive vor. Es erfolgt eine Beschreibung im Umgang des Autors mit tieferen emotionalen Schichten, die eine Verbindung verschiedener körperorientierter Therapieformen mit systemischem Gedankengut darstellt. Hier kommen insbesondere die energetischen Perspektiven der Körperarbeit (Core Energetik, SKAN, Vegetotherapie, Biosynthese) zum tragen, die zu einem lebendigen, humorvollen und leidenschaftlichen Umgang im Therapieraum einladen. Aufschlussreich war für mich auch die Zusammenstellung der verschiedenen körperpsychotherapeutischen Verfahren im Literaturverzeichnis, die einen Überblick über die verschiedenen Ansätze erlaubt, die in die beschriebene Arbeitsweise eingeflossen sind.
Im dritten Abschnitt erfolgt anhand von 50 Fallbeispielen bzw. Beziehungschoreographien, wie sie der Autor nennt, die Synthese von einer auf Perspektivenreichtum und Perspektivenwechsel fokussierten systemischen Gesprächsführung und einer auf die intuitiven und emotionalen Schichten ausgerichteten körper- und bewegungsbezogenen Arbeitsweise. Insbesondere der dritte Abschnitt bietet eine Fülle von Ideen und Anregungen für die Integration körperbezogener Interventionen in die systemische Gesprächsführung. Angenehm für mich ist die Zusammenstellung der rund 50 körperbezogenen Interventionen am Beginn des dritten Abschnitts, die mir inzwischen des Öfteren als eine Art Stichwortgeber dient.
Was lässt sich über den Autor erfahren? András Wienands ist Diplom Psychologe, Systemischer Therapeut, Körperpsychotherapeut und Leiter der Gesellschaft für Systemische Therapie und Beratung. Seine systemisch-psychologische Ausbildung hat er in München, Frankfurt, Berlin und den USA (MRI in Palo Alto und Minuchin Center, NYC) absolviert. Seine psychotherapeutische Praxis befindet sich im Ostteil des ehemals geteilten Berlins im „Szenekiez“ Prenzlauer Berg, dessen Bewohnern Wienands für ihren Mut dankt, innovative Wege im sozialen Miteinander zu suchen.
Als systemischer Therapeut und Berater, der sich sowohl mit Systemischen Konzepten als auch mit der Körperpsychotherapie gut vertraut fühlt, möchte ich versuchen in Kürze zu benennen was ich als so erstaunlich, bzw. neuartig an der beschriebenen Vorgehensweise empfinde. Ich kenne wohl den Versuch als Systemiker gemeinsam mit dem Klienten von einer linearen zu einer zirkulären Beschreibung von Problemen, Lösungen, Beziehungen, etc. zu wechseln. Auch ist mir die Arbeit als Körperpsychotherapeut im Einzelsetting mit meinen Klienten vertraut. Was mir jedoch neu erscheint ist die Integration von körperorientierten Interventionen im Paar-, Team- oder Familiensetting, d.h. die Integration von Gesprächsführung und Körperarbeit in der Arbeit mit Mehrpersonensystemen. Dies erscheint im ersten Moment als Widerspruch, der sich jedoch auflöst, wenn man von der Vorstellung loslässt, dass nur der Therapeut körperbezogene Interventionen handhaben könne.
András Wienands nennt seine Vorgehensweise Beziehungschoreographie. Man kann sich das so vorstellen, dass das, was auf verbaler Ebene mit dem Paar, der Familie, dem Team besprochen wird als Dialog in Bewegung (Bewegungsdialoge) fortgesetzt wird, d.h. der verbale Dialog um den verkörperten Dialog, die verbale Interaktion um die körperbezogene Interaktion, ergänzt wird. Die Verköperung der Fragestellungen und Themen wird dabei sowohl als Medium zur Reise in die Vergangenheit, zur Gestaltung des „Hier und Jetzt“, als auch der Zukunft verwendet. Als einfachstes Beispiel fällt mir z.B. der Konflikt eines Paares ein, welches im Streit immer wieder voreinander davon läuft. Auf der körperlichen Ebene wird gestaltet, was sich auf der verbalen nicht ergeben mag; das miteinander Streiten und Kämpfen nach abgesprochenen und von beiden Seiten einzuhaltenden Spielregeln; die verkörperte Vision des Paares von sich selbst in fünf Jahren; die lange zurück liegende Verletzung durch das Fremdgehen des Partners. Diese verkörperten Dialoge führen, häufig zur Auflösung vorhandener Gesprächsblockaden, kreieren erstaunliche (Interaktions-)Lösungen und helfen beim Verstehen von alten Verletzungen. Ein, wie mir scheint, bemerkenswertes und leicht zu handhabendes Instrument, dessen Potential wesentlich durch die Klienten selbst bestimmt werden kann. Es ist der Spaß, das Spiel, die Freude und der Schmerz, den der Klient durch das in Bewegung kommen und durch die Interaktion mit seinen Bezugspersonen erfährt, welche das ausschlaggebende Kriterium für Veränderungen darstellen. Einen Weg, den Ressourcenreichtum des Körpers für Wachstum und Entwicklung zu nutzen, ohne die Verantwortung hierfür an den Therapeuten delegieren zu können.
Kurz und gut, ein rundum zu empfehlendes Buch, das sicherlich noch für die eine oder andere anregende Diskussion in unserer systemischen Familie sorgen wird.
Peter Thiel
Die Rezension von Peter Thiel ist erschienen in:
"Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung"
Januar 2007, S. 56-57
verlag modernes lernen Borgmann KG
In gekürzter Fassung erschienen in:
"Familiendynamik. Interdisziplinäre Zeitschrift für systemorientierte Praxis und Forschung"
Januar 2007, J. G. Cotta`sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, S. 90-91