Stellungnahme zum Gutachten der Diplom-Psychologin Dr. Sibylle Kurz-Kümmerle vom 18.02.2005

 

Familiensache: X (Mutter) und Y (Vater)

Kind: A (Sohn) geb. ....1996

 

Amtsgericht Offenbach

Richter Herr ...

Geschäftsnummer: ... /04

 

 

 

Erarbeitung der Stellungnahme durch Peter Thiel

 

...

 

Die hier vorliegende Stellungnahme bezieht sich auf das vorliegende 46-seitige schriftliche Gutachten.

 

 

 

Gerichtliche Fragestellung laut Beschluss vom 28.09.2004:

"Es soll zu der Frage, welche Regelung des Sorgerechts dem Wohl des Kindes A am besten entspricht, ein kinderpsychologisches Gutachten eingeholt werden."

 

 

 

 

I. Allgemeines

Die eingangs vorgestellte gerichtliche Beweisfrage löst hier Verwunderung aus. Der zuständige Familienrichter stellt nämlich eine rechtliche Frage an die Gutachterin. Es dürfte jedoch nicht Aufgabe der Gutachterin sein, rechtliche Fragen des Gerichtes zu beantworten, sondern nur solche Fragen für die dem zuständigen Familienrichter die erforderliche Sachkunde fehlt und er daher zu deren Beantwortung die Unterstützung einer dafür sachkundigen Person in Anspruch nehmen muss. Rechtliche Fragen hat einzig und allein der Richter selbst zu beantworten.

Von daher kann man fragen, ob das Gutachten überhaupt gerichtsverwertbar ist?

Von dieser wichtigen Frage abgesehen, die zu klären gegebenenfalls Aufgabe der beteiligten Parteien, also der Mutter oder des Vater sein könnte, soll dennoch im folgenden auf das vorliegende Gutachten eingegangen werden.

 

 

Der Unterzeichnende ist ja bereits in vier vorherigen Fällen von betroffenen Eltern zu Fragen der Tätigkeit der Gutachterin Frau Dr. Sibylle Kurz-Kümmerle konsultiert worden. Dies mag daran liegen, dass die Gutachterin besonders viele Gutachten schreibt oder - was problematischer wäre, dass ihre Gutachten eine solche Qualität aufweisen, die den Widerspruch der betroffenen Eltern hervorrufen.

 

 

 

Hilfskräfte der Gutachterin

Die Gutachterin hat Teile des an sie gerichtlich übertragenen Auftrages an eine andere Person delegiert. Dabei handelt es sich nicht um Hilfstätigkeiten von ungeordneter Bedeutung, wie etwa Abrechnungen, Terminvereinbarungen etc., sondern um Durchführung von Testdiagnostik sowie von Interaktionsbeobachtungen zwischen Eltern und dem Kind, das die Gutachterin an die Diplom-Psychologin Magdalena Vogel übertragen hat (S. 7). Dies dürfte unzulässig sein und von daher dürften auch die von Frau Vogel erzielten Ergebnisse nicht gerichtsverwertbar sein (vgl. hierzu auch die aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Unzulässigkeit heimlich eingeholter Vaterschaftstest als Beweismittel in einem Anfechtungsverfahren (Aktenzeichen: XII ZR 60/03 u. 227/03 vom 12. Januar 2005)

Vergleiche hierzu die folgenden Darlegungen:

 

"Neben der Nachvollziehbarkeit gibt es Kriterien, die ein Gutachten bereits aus Rechtsgründen unverwertbar machen. Hierzu zwei wichtige Beispiele:

Nicht der in der Beweisanordnung bestimmte Arzt führt das Gutachten aus, sondern ein anderer. ... Es gehört jedoch zur Pflicht des entscheidenden Gerichts, die Identität des Untersuchers zu überprüfen. Stimmt sie nicht mit der Beweisanordnung überein, führt die regelmäßig zur Unverwertbarkeit des Gutachtens. Der bestimmte Gutachter hat das Gutachten nicht gefertigt. Der es gefertigt hat, war nicht bestimmt. Diese formal erscheinende Rechtsfolge hat auch ihren inhaltlichen Sinn. Wird ein bestimmter Untersucher beauftragt, so will sich das Gericht seine besonderen Kenntnisse zu Nutze machen. ... Erst die besonderen Kenntnisse oder Erfahrungen des beauftragten Sachverständigen können die Untersuchung in bestimmten Fällen überhaupt erst möglich machen."

Elling, Peter: "Medizinische Sachverständigengutachten in der sozialgerichtlichen Praxis - Qualitätssicherung bei Auftraggeber und Auftragnehmer", In: "Neue Zeitschrift für Sozialrecht", 3/2005, S. 123-124

 

"Der Sachverständige ist nicht befugt, den gerichtlichen Auftrag auf eine andere Person zu übertragen. Soweit er sich der Mitarbeit einer anderen Person bedient, hat er diese namhaft zu machen und den Umfang ihrer Tätigkeit anzugeben, falls es sich nicht um Hilfsdienste von untergeordneter Bedeutung handelt" (§407a ZPO).

 

"Übersehen wird, dass es durch die Einschaltung von Hilfspersonen zu versteckten Einflüssen auf Gutachten kommen kann, was unzulässig ist. Absolut unproblematisch sind Tätigkeiten, die keinen Einfluss auf ein Gutachten haben ... . Hilfstätigkeiten sind dann nicht zu beanstanden, wenn diese Hilfstätigkeiten vom Sachverständigen überwacht werden. ... Es mag zwar ablauforganisatorisch und ökonomisch durchaus einleuchtend sein, dass gerade der Chefarzt sich auf Abschlussuntersuchungen beschränkt und alles andere an Ärzte im Praktikum, Assistenz- und Oberärzte delegiert. Diese Art der Arbeitsteilung lässt sich nicht mit den Pflichten eines Sachverständigen vereinbaren. Analysen und Tätigkeiten, die das Gutachtenergebnis unmittelbar beeinflussen, weil sie bewertende sind, sind nicht delegierbar. Demzufolge müssen Sachverständige z.B. psychologische Untersuchungen ..., selbst vornehmen, da sie ansonsten ihre eigentliche gutachterliche Aufgabe Dritten übertragen. Schließlich versichern sie, dass sie das Gutachten nach ihrem besten Wissen und Gewissen erstellten und nicht Dritte." (Schorsch, 2000)

 

"Das medizinische Sachverständigengutachten soll nicht primär rechtliche Erkenntnis ersetzen. Bei ausfüllungsbedürftigen unbestimmten Rechtsbegriffen hat der Gutachter nur zu deren medizinischen Bestandteilen Stellung zu nehmen. Namhaft zu machende ärztliche Mitarbeiter dürfen nur definierte Teilleistungen übernehmen. Es reicht nicht, wenn der Mitarbeiter, ohne die delegierten Teilleistungen anzugeben, und der bestellte Sachverständige, ergänzt um den Zusatz `Einverstanden aufgrund eigener Untersuchung und Beurteilung, die Expertise unterzeichnen." (Stegers, Christoph-M., 2001)

 

Rechtsprechung zu dieser Frage u.a. auch BVerwG NJW 1984, 2645 ff.

 

 

 

Die Gutachterin führt an, dass der Vater sich dafür ausspricht, die Gemeinsame elterliche Sorge beizubehalten:

"Er wolle, dass das Sorgerecht bei ihnen gemeinsam verbleibe" (S. 15)

 

Dies führt nun etwa nicht dazu, dass die Gutachterin, nachdem sie zu der Auffassung kommt, dass der Sohn seinen gewöhnlichen Aufenthalt beim Vater beibehalten sollte (S. 44), der entsprechende Antrag der Mutter also von der Gutachterin zurückgewiesen wird, sich für die Beibehaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge aussprechen würde, dies wäre eine logische Schlussfolgerung. Statt dessen empfiehlt die Gutachterin faktisch, einem der beiden Elternteile die elterliche Sorge nach §1671 BGB abzuerkennen:

"Für eine gemeinsame Sorgerechtsausübung wird bei der derzeitigen Ausgangslage kaum eine Basis gesehen" (S.44)

 

Was soll denn der Richter, der ja von der Gutachterin offenbar eine rechtliche Empfehlung erwartet hat:

"Es soll zu der Frage, welche Regelung des Sorgerechts dem Wohl des Kindes A am besten entspricht, ein kinderpsychologisches Gutachten eingeholt werden."

 

denn nun tun? Sollte er, der Überlegung der Gutachterin folgend dem Vater das Sorgerecht aberkennen oder der Mutter? Es wäre sicher wenig sinnvoll, dem Vater das Sorgerecht abzuerkennen, wenn dieser nach dem Vorschlag der Gutachterin den Sohn betreuen sollte. Der Mutter, in dem Fall dass der Sohn beim Vater seinen Lebensschwerpunkt hätte, das Sorgerecht abzuerkennen wäre jedoch auch unsinnig, da der Vaters sich ja gerade dafür ausgesprochen hat, die elterliche Sorge weiterhin gemeinsam auszuüben.

 

 

 

GWG

Die Gutachterin beschriftet ihr Gutachten durchgängig mit der Abkürzung "GWG", wodurch der Eindruck entstehen kann, die GWG, eine Gesellschaft mit Sitz in München (die Rechtsform ist dem Unterzeichnenden nicht bekannt) hätte etwas mit der Beauftragung durch das Familiengericht Offenbach zu tun. Diesen Eindruck erweckt auch die Mitteilung der Gutachterin, die Akten wären "bei der GWG am 12.10.2005" eingegangen (S. 3). Dabei ist doch klar, dass als Gutachter immer konkrete Einzelpersonen zu bestellen sind, nicht jedoch Gesellschaften welcher Rechtsform auch immer, wie die Gutachterin möglicherweise suggerieren will. Das Gericht hat daher Akten auch nicht an eine GWG zu senden, sondern höchstpersönlich an die Gutachterin, die dann dem Gericht mitteilen kann, dass bei ihr die Akten eingegangen wären.

 

Die Gutachterin teilt mit: "Das elterliche Erziehungsverhalten wird gemäß einem Kriterienkatalog (Arbeitsmaterial der GWG-Hessen) bewertet." (S. 35). Nun fragt man sich, wer das denn sei, die sogenannte "GWG-Hessen", ist dies ein eingetragener Verein, eine lose Verbindung interessierter Menschen oder eine GmbH? Und welche Position nimmt die Gutachterin in dieser nicht näher beschriebenen "GWG-Hessen" ein?

Wieso findet sich im Literaturverzeichnis des Gutachtens keine Angabe zu diesem von der Gutachterin angeführten "Kriterienkatalog"? Er ist offenbar auch nicht dem Gutachten als Anlage beigefügt, so dass sich die Beteiligten über diesen "Kriterienkatalogs" nicht sachkundig machen können. Wie verhält es sich überhaupt mit sogenannten "Kriterienkatalogen"? Kann jeder Gutachter seinen eigenen Kriterienkatalog erfinden und anwenden oder bedarf es dazu einer Legitimation einer Vereinigung wie der GWG, von der öffentlich nicht näher bekannt ist, nach welchen internen Regeln sie funktionieren und ob die erforderliche Legitimation vorhanden ist, eigene Kriterienkataloge zu entwickeln und diese für die Tätigkeit von Gutachtern zu benutzen? Möglicherweise kann die Gutachterin dies dem Gericht noch erläutern?

 

 

 

Sprache

Die Gutachterin verwendet im Gutachten durchgängig die antiquierten, vormundschaftlichen und Distanz herstellenden Begriffe "Kindesvater", "Kindesmutter" und "Kindeseltern", Begrifflichkeiten, die nicht geeignet sind, die Eltern als das zu sehen und zu fördern, was sie sind, nämlich Vater und Mutter (vgl. Kaufmann 1999). Dies liegt vielleicht daran, dass die Gutachterin schon sehr lange Gutachten schreibt und daher noch dem Sprachgebrauch der 60er und 70er Jahre verhaftet ist. Es fragt sich, ob die Gutachterin, falls sie selbst Mutter wäre, sich von anderen Menschen mit Kindesmutter bezeichnen lassen würde. Der Unterzeichnende hat diese Problematik schon mehrmals in vorherigen Stellungnahmen kritisiert ohne dass dies auf Seiten der Gutachterin offenbar zu einer Veränderung geführt hätte.

 

Bedauerlicherweise gibt die Gutachterin keine einführende kurze Übersicht über die aktuellen Lebensverhältnisse der Trennungsfamilie. So muss sich der Leser erst mühselig einige wichtige Eckdaten aus den Explorationen der Eltern herausarbeiten. Aber auch hier fehlen Informationen, wie z.B. die wie weit die Eltern derzeit auseinander wohnen. Dies zu wissen wäre aber nicht unwichtig, um z.B. feststellen zu können, ob A trotz der von der Gutachterin empfohlenen Beibehaltung seines derzeitigen Lebensschwerpunktes beim Vater, in zeitlich größerem Umfang als bisher oder sogar im Wechselmodell auch durch die Mutter betreut werden könnte. Dies würde dann gut gehen, wenn die Schule von A von beiden Wohnorten der Eltern relativ leicht zu erreichen wäre.

 

 

 

Befähigung der Gutachterin eigene Moralvorstellungen zu relativieren

 

Die Gutachterin schreibt:

"Die Kindesmutter hat sich vom Vater und damit auch von der Familie getrennt, ohne eine Perspektive für sich und das Kind zu haben. sie befand sich auch laut ihrer eigenen Schilderung nicht in einer so vehementen Notlage, dass sie keine anderen Möglichkeiten gehabt hätte. Sie hat in Kauf genommen, dass das Kind zurückblieb und von der Oma versorgt wurde." (S. 36)

 

Es stellt sich hier die Frage, ob sich nach Ansicht der Gutachterin eine Frau nicht von ihrem Mann trennen darf und wenn sie sich trennt, ob sie dann immer unter Verletzung der gemeinsamen elterlichen Sorge, so wie es in Deutschland eher die Regel als die Ausnahme ist, in rechtswidriger Weise das Kind mitzunehmen hat. Tut sie das nicht, hält sie sich also an Recht und Gesetz und belässt das Kind, so wie in vorliegendem Fall, versorgt in Obhut des Vaters und hier auch noch der Großmutter väterlicherseits, so wird dies von der Gutachterin mit der moralischen Keule hat sich von der Familie getrennt negativ honoriert. Hier fühlt man sich an die Erzählung "Effi Briest" von Theodor Fontane erinnert. Verstößt eine Frau gegen den herrschenden gesellschaftlichen Moralkodex, so wird dies sanktioniert. Früher war das der Verlust des Rechtes auf Kontakt zu den eigenen Kindern, heute läuft dies vielleicht subtiler ab.

 

 

 

Pädagogische Ratschläge

Die Gutachterin wurde vom Gericht nicht dazu eingesetzt, den Eltern pädagogische Ratschläge zu erteilen oder ihre persönliche Wertvorstellungen mitzuteilen. Deshalb verwundert es, wenn die Gutachterin schreibt:

"A geht keinen regelmäßigen Freizeitbeschäftigungen nach, was für ein Kind seines Alters eher schade ist, da er dort nicht nur seine Neigungen und Begabungen herausfinden und weiterentwickeln könnte, sondern auch nochmals ein Umfeld für soziales Lernen und soziale Integration vorfände." (S. 32)

 

Die Bemerkungen der Gutachterin lassen mehr auf ihr eventuell eigenes mittelschichtsorientiertes Denken schließen, als auf eine einfühlsame Haltung gegenüber der von ihr begutachteten Trennungsfamilie. Möglicherweise geht es ihr hier auch mehr darum, kulturelle Überlegenheit gegenüber den Eltern zu demonstrieren, als darum den Eltern wirkliche Unterstützung zu geben.

 

 

 

 

II. Einzelpunkte

 

Die Gutachterin gibt zwar an:

"Im Rahmen des diagnostischen Prozesses werden Konfliktlösungsmöglichkeiten berücksichtigt" (S. 3)

 

Allerdings lässt die Gutachterin kaum erkennen, was sie darunter konkret versteht und um welche Konfliktlösungsmöglichkeiten sie sich in dem vorliegenden Fall gegebenenfalls bemüht hätte. Möglicherweise meint sie damit das "gemeinsame Abschlussgespräch", dass die Mutter nach Angaben der Gutachterin von vornherein abgelehnt haben soll (S. 7).

 

 

Der Vortrag der Gutachterin:

"Es wird dabei zu wenig die mittel- und längerfristige Perspektive für A berücksichtigt. Dieser bleibt kein kleines Kind, das an Pferden und Spielen in der Natur interessiert ist, sondern wird künftig auch andere Bedürfnisse haben. Er ist dann auf diesem Reiterhof doch relativ isoliert und stets auf Transportdienste angewiesen, kann Kontakte zu anderen Kindern nur begrenzt pflegen, insbesondere eben nur zu denen, die dort in der unmittelbaren Umgebung sind." (S. 36-37)

 

wirkt wenig überzeugend. Es ist ja wohl nicht so, dass der Reiterhof sich auf einer Insel im Pazifischen Ozean befindet, sondern in einer ländlichen Umgebung, wo einem Kind vielfältige Kontakte zu Gleichaltrigen möglich sind. Es ist überhaupt nicht erwiesen, dass diese eingeschränkter sein müssen als bei Kindern, die im städtischen Milieu leben. Es ist sicher auch der Gutachterin nicht unbekannt, wie viele Kinder und Jugendliche in Städten in isolierten Verhältnissen leben und wie viele spezifische Gefährdungen das Stadtleben Kinder und Jugendlichen "bietet". Nicht von ungefähr findet man Kinderheime oft im ländlichen Raum angesiedelt, weil hier eine gewisse Überschaubarkeit positive Effekte für die Erziehung der Kinder und Jugendlichen zu haben scheint.

 

 

Der Vortrag der Gutachterin:

"Das Leben auf dem Reiterhof ist vielleicht für die nächsten paar Jahre, maximal bis zum Ende der Grundschulzeit eine interessante Perspektive für das Kind, danach sind seine Bedürfnisse jedoch wahrscheinlich anders gelagert, so dass es dann vielleicht wieder zu einer Umfeldveränderung kommen müsste." (S. 40)

 

erscheint wenig überzeugend. Das "Vielleicht" der Gutachterin hilft als Argumentation nicht weiter. Der Volksmund pflegt in solche Fällen zu sagen. Kräht der Hahn auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder bleibt wie es ist. Vielleicht ist es auch so, dass der älter werdende Junge, so wie auch andere Jungen seines Alters sich im ländlichen Raum wohlfühlt. Wäre dies nicht so, dann gäbe es keine jungen Leute mehr im ländlichen Raum. Und wenn man sich andererseits anschaut, wie viele frustrierte und demotivierte männliche Jugendliche in den Städten ihre Zeit totschlagen, mag man den Mutmaßungen der Gutachterin noch weniger folgen.

 

 

Die Gutachterin sinniert darüber nach, was sich möglicherweise in der Vergangenheit, als die Mutter aus der Wohnung der Familie ausgezogen ist, ereignet haben könnte:

 

"Wenn A sich mit der Trennung seiner Eltern auseinandersetzt, versucht er Verständnis für deren Verhalten in gewissen Situationen im Nachhinein zu entwickeln. Insbesondere nimmt er dabei seine Mutter und deren Verhalten in Schutz. Er macht sie nicht dafür verantwortlich, dass sie ihn damals verlassen hat und stattdessen mit den Hunden ausgezogen ist. Er schildert es so, als sei ihr keine Wahl geblieben. Es ist jedoch davon auszugehen, dass das Kind sich letztendlich von beiden Eltern verlassen und aufgegeben gefühlt hat, da er im Zuge der elterlichen Trennung dann ganz in die Betreuung und Obhut der Oma wechselte, insofern sein Zuhause und beide Eltern verloren hatte. Er konnte dabei über Jahre keinen intensiven Kontakt zu seiner Mutter pflegen und muss diese ständig vermisst haben, was auch der Kindesvater bestätigte." (S. 32/33)

 

 

Die Gutachterin betreibt hier einen Rückblick in die Vergangenheit, für deren Interpretation sie jedoch den Nachweis schuldig bleibt. Auf ihre unbewiesene Vermutung aufbauend, schlussfolgert die Gutachterin dennoch:

 

"Es verwundert daher nicht, dass er, als er die Möglichkeit wahrnahm, bei der Mutter zu leben, seinem Wunsch entsprechend Ausdruck verliehen hat." (S. 33)

 

Nun bringt diese Spekulation letztendlich aber wohl nicht weiter. Egal wie der Wunsch von A zustande gekommen sein mag, unstrittig dürfte sein, dass er den Wunsch hat bei der Mutter zu leben und entsprechend der vorliegenden gegensätzlichen Anträge der Eltern vom Gericht zu prüfen ist, welche Regelung dem Kindeswohl am besten entspricht.

 

 

 

 

Kindeswillen

Offensichtlich ist der Wunsch des gut achtjährigen A, schwerpunktmäßig bei seiner Mutter leben zu wollen, recht ausgeprägt (vgl. S. 21-25). Dies führt bei der Gutachterin jedoch nur zu der abschließenden Anmerkung:

 

"Diese Willensäußerung wurde so verstanden, dass A mehr und intensiveren Kontakt mit der Mutter haben möchte." (S. 44)

 

Offen bleibt dabei, was die Gutachterin mit ihrer Bemerkung "intensiveren Kontakt" meint, dies muss etwas anderes sein als "mehr Kontakt".

Die Gutachterin macht jedoch keinen Vorschlag, wie so ein Mehr an Kontakt konkret aussehen könnte. Gerade aber dies würde vermutlich den zuständigen Familienrichter interessieren, sonst wäre die Begutachtung wohl zum größten Teil rausgeworfenes Geld und verlorene Zeit. Denkbar wäre zum Beispiel ein Vorschlag, dass A jeweils ein oder zwei Tage länger bei der Mutter als bisher ist oder, wenn es die örtlichen Verhältnisse zulassen würden, von beiden Eltern im wöchentlichen Wechsel betreut würde.

 

Zum Thema Kindeswille:

Lehmkuhl, Ulrike & Lehmkuhl, G.: "Wie ernst nehmen wir den Kindeswillen?"; In: "Kind-Prax", 2, (1999). 159-161.

 

 

Wozu die Gutachterin darauf insistiert, dass A sich, seinen Vater, dessen Freundin und deren Sohn als Familie ansehen sollte, bleibt hier unklar. Die Gutachterin schreibt:

"Auf ein Foto von ihm, seinem Vater, dessen Freundin und deren Sohn angesprochen, dass dies aussehe wie eine kleine Familie, sagte er, das finde er eigentlich nicht." (S.24)

 

Statt sich in die Gefahr des Vorwurfs zu begeben mit unzulässigen Suggestionen zu arbeiten, hätte die Gutachterin z.B. mit Hilfe des Scencotests näher erkunden können, welches Familienbild A hat und hätte ihn nicht mit der latenten Gefahr einer suggestiven Vorgabe danach fragen müssen, ob A sich, seinen Vater, dessen Freundin und deren Sohn unter den Begriff von Familie subsumiert.

 

 

Die Gutachterin trägt vor:

"Da A sich nur für einen Elternteil und damit gegen den anderen entscheiden kann, zeigt er jetzt eine deutliche Präferenz der Mutter, die ihm über lange Jahre hinweg überhaupt nicht in ihrer mütterlichen Rolle zur Verfügung stand." (S. 33)

 

Die Gutachterin postuliert hier, dass A nur eine Entweder-Oder Positionierung für und gegen einen Elternteil zur Verfügung stände. Dies mag für den Aufenthaltsort des Kindes zutreffend sein, mehr aber auch nicht. Denn bei einem Wechsel in den Haushalt seiner Mutter würde Marius seinen Vater weiterhin als enge und wichtige elterliche Bezugsperson behalten und regelmäßige und intensive Kontakte mit seinem Vater pflegen können, wie auch der Vater umgekehrt mit seinem Sohn.

Wenn, wie die Gutachterin meint, der Sohn in der Vergangenheit unter einem Mangel an mütterlicher Präsenz gelitten hat, warum sollte es dann nicht gut sein, wenn jetzt in der Gegenwart eine Gelegenheit geschaffen wird, diesen Mangel durch erlebte Nähe auszugleichen? Oder sollen im Erwachsenenalter des Sohnes seine Beziehungen zu Frauen von der unerlösten Sehnsucht zu seiner Mutter überschattet sein, mit der sehr wahrscheinlichen Folge, dass eine solche Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau zu einer Trennung führen wird und damit in zweiter Generation zu einer Neuauflage der selbst erlebten elterlichen Trennung?

Vergleiche hierzu: Boszormenyi-Nagy, Ivan; Spark, G.M.: "Unsichtbare Bindungen. Die Dynamik familiärer Systeme"; Klett Cotta, Stuttgart, 1981; Original 1973 (Mehrgenerationaler Ansatz. Die Balance von Geben und Nehmen)

 

Im übrigen dürfte es so sein, dass einem starken Bedürfnis, in diesem Fall des Sohnes nach einem engeren Kontakt zu seiner Mutter, letztlich auch mit Gerichtsbeschlüssen, die ihm die Umsetzung dieses Bedürfnisses versagen, nicht aufzuhalten sein wird. Es dürfte eher dazu führen, dass der jetzt knapp neunjährige Junge Wege finden wird, eine solche gerichtliche Entscheidung zu sabotieren und schließlich doch, auf welchen Umständen auch immer, zu seiner Mutter zu kommen.

 

 

 

 

III. Empfehlung

 

Von Seiten des Unterzeichnenden wird auf Grundlage der hier zur Verfügung stehenden Informationen aus dem vorliegenden Gutachten für durchaus denkbar und sinnvoll gehalten, dass A in den Haushalt seiner Mutter wechselt. Gefährdungsgründe für eine solche mögliche Entscheidung hat auch die Gutachterin nicht geäußert (vgl. S. 35-36).

A stehen bei der Mutter günstige örtliche und räumliche Bedingungen zur Verfügung (vgl. S. 34). Er muss sich nicht in die Schwierigkeiten und Risiken (überdurchschnittliche Trennungswahrscheinlichkeit) einer Patchworkfamilie einfinden, wie sie derzeit beim Vater, seiner Freundin und deren Sohn vorzufinden sein dürfte.

 

Der Entzug der elterliche Sorge nach §1671 BGB, wie von der Gutachterin tendenziell vorgeschlagen, dürfte der falsche Weg sein und sollte daher zurückgewiesen werden. Der Vorschlag birgt überdies die Gefahr daraus resultierender Konflikte zwischen den Eltern.

Vergleiche hierzu:

Füchsle-Voigt, Traudl: "Verordnete Kooperation im Familienkonflikt als Prozess der Einstellungsänderung: Theoretische Überlegungen und praktische Umsetzung", In: "Familie, Partnerschaft, Recht", 2004, Heft 11, S. 600-602

Kaiser, Dagmar: "Elternwille und Kindeswohl - für das gemeinsame Sorgerecht geschiedener Eltern", In: "Familie, Partnerschaft, Recht", 2003, Heft 11, S. 573-578

 

 

 

 

IV. Schluss

...

 

 

 

 

 

Peter Thiel, 09.04.2005

...

 

 

 

 

Literatur:

 

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